Die Realität des ‘versteckten Hungers’ in Deutschland und die Herausforderung der Nährstoffversorgung.
Einleitung:
Wir befinden uns in einer Zeit, die von Überernährung und gleichzeitig scheinbar paradoxer Mangelernährung geprägt ist, ein Phänomen, das auch als “versteckter Hunger” bekannt ist. Während wir im Überfluss von Kalorien leben, resultiert ein Nährstoffmangel aus einer eingeschränkten Aufnahme und Absorption von Mikronährstoffen wie zum Beispiel Eisen, Jod, Zink und Vitamin A [1]. Die Nationale Verzehrstudie II (NVSII) ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung zu diesem Thema und zeigt, dass große Teile der deutschen Bevölkerung nicht die Vorgaben für die wichtigsten Nährstoffe der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) erfüllen [5].
1. Was versteht man unter dem Begriff “versteckter Hunger”?
Eine minderwertige, industriell verarbeitete Ernährung ist nicht nur arm an Mikronährstoffen, sondern auch reich an Kalorien. Diese sogenannten ‚leeren Kalorien‘ führen zu Mikronährstoffmängeln und bilden die Grundlage für viele Zivilisationskrankheiten wie koronare Herzkrankheiten, Schlaganfall, Diabetes und Krebs. Ungesunde und ökologisch nicht nachhaltige Ernährungsmuster zeichnen sich oft durch einen hohen Gehalt an Kalorien, zugesetztem Zucker, gesättigten Fetten, verarbeiteten Lebensmitteln und rotem Fleisch aus [1].
2. Die Auswirkungen des “versteckten Hungers”
Defizite in unserer Nährstoffversorgung, insbesondere an Eisen, Vitamin A, Zink, Folsäure, Vitamin B12, Vitamin D und Jod, haben weitreichende gesundheitliche Auswirkungen. Dazu zählen eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen, Unfruchtbarkeit, Geburtsfehler, Blindheit, kognitive Beeinträchtigungen, geringere schulische Leistungen oder Arbeitsproduktivität, chronische Erkrankungen sowie eine Beeinträchtigung des Wachstums und der Entwicklung bei Kindern [2]. Besonders gefährdet sind Kinder, Jugendliche und Schwangere, da ihre Nährstoffanforderungen in diesen Lebensphasen erhöht sind.
Mikronährstoffmängel bleiben anfänglich oft unbemerkt, da sie unspezifische Symptome verursachen. Langfristig stellt eine ungesunde Ernährung jedoch das größte Risiko für Morbidität und Mortalität dar, sogar größer als das von ungeschütztem Geschlechtsverkehr sowie Alkohol-, Drogen- und Tabakkonsum zusammen [1].
“Eine ungesunde Ernährung stellt global die größte Krankheitslast dar” [1].
3. Subklinische Nährstoffdefizite in der Schwangerschaft und ihre Auswirkungen
Subklinische Nährstoffdefizite sind besonders problematisch, wenn sie zum Zeitpunkt der Konzeption (Eintritt einer Schwangerschaft) und während der Schwangerschaft auftreten. Diese Defizite haben entscheidende Auswirkungen auf die pränatale Phase, die Geburt sowie die körperliche und kognitive Entwicklung eines Neugeborenen.
Die ersten 1.000 Tage, die vom Beginn der Empfängnis bis zum Alter von 2 Jahren reichen, sind von entscheidender Bedeutung. In dieser Lebensphase, die durch schnelles Wachstum und zügige Differenzierung von Gewebe und Organen gekennzeichnet ist, entsteht ein erhöhter Nährstoffbedarf pro Kilogramm Körpergewicht. Die Nährstoffzufuhr während dieser Zeit hat einen bedeutenden Einfluss auf die langfristige Gesundheit des neugeborenen Kindes, einschließlich der Gehirnentwicklung, funktioneller Störungen, Krankheiten sowie Syndromen der Fortpflanzung und des Stoffwechsels im Erwachsenenalter. Eine ausreichende Versorgung mit Mikronährstoffen in dieser sensiblen Lebensphase ist daher von besonderer Bedeutung [3].
3. Zahlen und Fakten zu Nährstoffdefiziten in der Schwangerschaft von Frauen in Deutschland:
Laut der Nationalen Verzehrstudie erreichen 79% der Männer und 86% der Frauen die empfohlene tägliche Zufuhr von Folsäure nicht [5]. In einer Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) erfüllten 95% der Frauen im reproduktionsfähigen Alter nicht die von der WHO empfohlenen Erythrozytenfolatkonzentrationen von 400 ng/ml (906 nmol/l) zur wirksamen Risikoreduktion von Neuralrohrdefekten [6].
4. Die Rolle der Lebensmittelindustrie und der Rückgang des Nährstoffgehalts:
Die Gesundheit des Menschen steht in direktem Zusammenhang mit der Gesundheit unseres Planeten. Die Eingriffe in die Lebensmittelindustrie, die Produktion, Verarbeitung und Lagerung von Lebensmitteln führen zu erheblichen Verlusten von Vitaminen und Mineralstoffen. Gleichzeitig wirkt sich der Anstieg der Kohlendioxidkonzentration (CO2) in der Atmosphäre negativ auf den Nährstoffgehalt vieler Nutzpflanzen aus [1]. Pflanzen passen sich unter erhöhten CO2-Bedingungen an, indem sie ihre Proteingehalte reduzieren und die Aufnahme von Mineralstoffen beeinträchtigen. Dieses Phänomen wird als “CO2-Dilution” bezeichnet, da der Anstieg von CO2 die Photosynthese stimuliert, aber die Proteingehalte in Pflanzen aufgrund eines verdünnten Verhältnisses von Kohlenstoff zu Stickstoff verringert werden [4].
Das Ergebnis sind Lebensmittel mit geringerem Nährstoffgehalt, was zu einer potenziellen Zunahme von Nährstoffmängeln und den damit verbundenen gesundheitlichen Auswirkungen führt.
Schlussfolgerung:
Es gibt verschiedene Gründe, die zu einer unzureichenden Aufnahme von Vitaminen und Mineralstoffen führen können. Neben einer ungesunden Ernährung, die langfristig zu Nährstoffdefiziten führen kann, erfordern spezielle Lebensphasen einen höheren Nährstoffbedarf, wie zum Beispiel ältere, geschwächte und kranke Menschen, Kinder und Jugendliche im Wachstum sowie schwangere und stillende Frauen. Aber selbst bei optimaler Ernährung führen Eingriffe in die Lebensmittelindustrie und der Anstieg von CO2 zu einer Reduzierung von Vitaminen und Mineralstoffen in unseren Lebensmitteln, die sich kaum vermeiden lassen und auf die man selbst nur wenig Einfluss hat.
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Quellen:
- Willett, W. C., Rockström, J., Loken, B., Springmann, M., Lang, T., Vermeulen, S. J., Garnett, T., Tilman, D., DeClerck, F., Wood, A., Jonell, M., Clark, M., Gordon, L., Fanzo, J., Hawkes, C., Zurayk, R., Rivera, J. Á., De Vries, W., Sibanda, L. M., . . . Murray, C. J. L. (2019). Food in the Anthropocene: the EAT–Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems. The Lancet, 393(10170), 447–492. https://doi.org/10.1016/s0140-6736(18)31788-4
- Stevens GA, Beal T, Mbuya MNN, Luo H, Neufeld LM; Global Micronutrient Deficiencies Research Group. Micronutrient deficiencies among preschool-aged children and women of reproductive age worldwide: a pooled analysis of individual-level data from population-representative surveys. Lancet Glob Health. 2022 Nov;10(11):e1590-e1599.
- Péter S, Eggersdorfer M, van Asselt D, et al. Selected nutrients and their implications for health and disease across the lifespan: a roadmap. Nutrients. 2014;6(12):6076‐6094. Published 2014 Dec 22
- Myers SS, Zanobetti A, Kloog I, Huybers P, Leakey AD, Bloom AJ, Carlisle E, Dietterich LH, Fitzgerald G, Hasegawa T, Holbrook NM, Nelson RL, Ottman MJ, Raboy V, Sakai H, Sartor KA, Schwartz J, Seneweera S, Tausz M, Usui Y. Increasing CO2 threatens human nutrition. Nature. 2014 Jun 5;510(7503):139-42. doi: 10.1038/nature13179. Epub 2014 May 7. Erratum in: Nature. 2019 Oct;574(7778):E14. PMID: 24805231; PMCID: PMC4810679.
- Ergebnisbericht Teil 2 Nationale Verzehrsstudie II – Max Rubner-Institut; https://www.mri.bund.de/fileadmin/MRI/Institute/EV/NVSII_Abschlussbericht_Teil_2.pdf; last accessed: January 30, 2024
- Mensink, Gert & Weißenborn, Anke & Richter, Almut. (2016). Folate status in Germany. Journal of health monitoring. 1. 24-28. 10.17886/RKI-GBE-2016-040.2. https://edoc.rki.de/handle/176904/2495.2